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Elementare Lebensgesichte

Zum Bild der Mutter bei Egger-Lienz im Kontext seiner Zeitgenossen

Carl Kraus (in: Egger-Lienz und Otto Dix. Bilderwelten zwischen den Kriegen, Ausstellungskatalog, hrsg. von Wolfgang Meighörner, Red. Helena Perena, Astrid Flögel, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck 2019)

Er benötige für seine Arbeit, um sich ganz einzubringen, schreibt Egger-Lienz im Juni 1912 seinem Freund Otto Kunz, den gesamten Kreislauf des Lebens: „Die Liebe (Zeugung), die Mütter, die Kinder, den Kampf, die Reue und Erkenntniß. Die Stille der Tat, und den Allschöpfer selbst. Grundak[k]orde (elementare Lebensgesichte) meine ich, welche meine Seel[e] ergreifen und an welchen sich mein Gestaltungsdrang befriedigen kann.“

Es sind die Gedanken eines Malers, der, vom symbolistischen Zeitgeist inspiriert, grundlegende Fragen des Daseins bildgewaltig in Szene setzen will, mit der Überzeugung, dass eines jeden Schicksal allgemeingültigen Bestimmungen unterworfen ist. Dies gilt für Mann und „Weib“, denen im Leben klar abgesteckte Aufgaben zugeordnet werden. Das für das Menschsein und die Natur insgesamt zentrale Thema der Mutter zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das Schaffen des Künstlers: von der frühen „Heiligen Nacht“ über die Werke „Das Leben“ und „Zeugung“ der mittleren Phase bis hin zu den „Kriegsfrauen“ und den späten Gedankenbildern „Mütter“ und „Pietà“.

Kopfstudie zur Frau links in „Mütter“, 1922 (Kirschl M 564; Bozner Kunstauktionen).

Es liegt auf der Hand, dass die Mutter, die große wundersame Schöpferin, vom Beginn künstlerischer Äußerungen an ein fundamentales Thema für Malerei und Plastik bietet, dabei unmittelbarer Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen ist und auch von zahllosen Zeitgenossen Egger-Lienzʼ zwischen Realismus, Symbolismus, Expressionismus und Neuer Sachlichkeit aufgegriffen wird, von Giovanni Segantini (1858–1899), Ferdinand Hodler (1853–1918) und Gustav Klimt (1862–1918) ebenso wie von Max Beckmann (1884–1950), Otto Dix und Rudolf Wacker (1893–1939). Egger-Lienz’ spezifische, zum Teil konservative und von alten bäuerlichen Traditionen mitgeprägte Interpretation, die die NS-Kulturpolitik – gewisse Aspekte herausgreifend – später für sich zu vereinnahmen weiß, wird gerade im Vergleich zu diesen Künstlern deutlich. Ebenso augenscheinlich wird, wie die beeindruckende Entwicklung des Malers zu zeitlosen Aussagen fernab jeglicher Blut-und Boden-Ideologie führt (siehe dazu: Zwischen Ideologie, Anpassung und Verfolgung. Kunst und Nationalsozialismus in Tirol, Katalog Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum  Innsbruck 2018/2019).
 

„Meine Mutter war für mich die Liebe selbst“

Als Egger-Lienz zu Jahresbeginn 1898 seiner Verlobten Laura von Möllwald (1877–1967) in mehreren Briefen von seiner Vergangenheit berichtet, beginnt er die Erzählung mit einer Schlüsselszene, die sich in das Gedächtnis des Künstlers eingebrannt zu haben scheint: Mit Tränen in den Augen kann seine (Zieh)-Mutter nicht mehr mit ansehen, wie teilnahmslos das Bauernpaar, bei dem er das erste Lebensjahr verbrachte, ihn bei einer schweren „Halserkrankung“ pflegt, und nimmt ihn folglich sofort bei sich und seinem Vater (1835–1907) auf. Dass Franziska Rotschopf (1840–1896), die der Vater wenige Monate nach Egger-Lienz’ Geburt heiratet, nicht seine leibliche Mutter ist, erfährt er erst, als er längst in München die Akademie der Bildenden Künste besucht: „Meine Mutter war für mich die Liebe selbst, ja ich schien mir oft von ihr bevorzugt zu sein. Den[n] meine treffliche Mutter wollte den Ruf der Stiefmutter zu Schanden machen. Als ich das dritte mal von der Akademie nach Hause kam um dort die Ferien zu verleben, sprach mein Vater auf einen [sic] Spaziergange folgende Worte zu mir. Du bist nun alt genug, daß man dich in ernsten Dingen vertraut machen kann. Die du immer für deine Mutter gehalten hast ist nicht deine leibliche Mutter. Deine Mutter, welche eine vorzügliche Frau ist, lebt, ich glaube, glücklich verheiratet, in der Fremde. Das Schicksal hat es nicht gewollt, daß wir uns für immer verbinden […] Wir haben dir diese Thatsache verschwiegen, daß du nie fühlen sollst, daß deine wahre Mutter nicht bei dir ist. Nicht wa[h]r und du hast es nie gefühlt und hast an deiner bisherigen Mutter eine rechte und liebe Mutter gehabt? Mit Thränen in den Augen mußte ich dieses mit meinen ganzen Herzen bestättigen [sic], den[n] mütterlicher und herzlicher hat niemals eine Mutter ihr Kind gepflegt“.

Egger-Lienz’ Verhältnis zur Ziehmutter, die ihn genauso behandelt wie ihre drei eigenen Kinder, bleibt bis zu Rotschopfs Tod innig. Seine leibliche Mutter, die Lienzer Bauerntochter Maria Trojer (1845–1914), lernt er erstmals 1895 als schwer kranke Patientin im Ospedale Maggiore in Mailand kennen. Auch zu ihr entwickelt er eine herzliche Beziehung.

Sowohl Ziehmutter als auch leibliche Mutter hat Egger-Lienz mehrmals porträtiert, letztere u.a. in einer eindringlichen Zeichnung aus dem Jahr 1912, der sich reizvoll das Werk„Unsere Mutter“ seines besten Schülers in Weimar, Rudolf Wacker, gegenüberstellen lässt. Beide zeigen einfache bäuerliche Frauen, die das Leben gezeichnet hat, wobei das Bildnis von Wacker, der einer jüngeren Generation angehört und von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit geprägt ist, die kerbigen Züge schonungsloser freilegt.

In seinen Briefen an die Verlobte tut Egger-Lienz zugleich sein zweifellos zeitgebundenes Frauenbild kund. Wie begehrenswert sei doch das Weib, wenn es Sinn für Häuslichkeit hat, ihren Gatten liebt und ihren Kindern eine sorgfältige Erziehung angedeihen lässt: „Mir kommt es immer vor wenn ein Weib ohne Mann niemals ihre Lebensaufgaben erfüllen könne ebenso daß der Mann ohne Frau nichts Rechtes ist, vor Allem ein halber Mann sei. Wie öde fließt sein Dasein dahin und niemals kann ihn das vielleicht durch Mühe Errungene so wirklich erfreuen wenn er niemanden neben ihm weis[s], welcher sich mit ihm erfreut.“ Noch konkreter wird der Maler im dritten Jahr seiner Ehe: „Weißt du, ich könnte eine sogenannte geistreiche, gelehrte Frau nicht brauchen; ein Blaustrumpf ist mir etwas Schreckliches oder gar eine Malerin, die würde alles besser verstehen und mir überall dreinreden wollen“. Hätten die Schülerinnen seiner 1903–1904 in Wien geleiteten „Malschule für Damen“ diese Aussage von Egger-Lienz gelesen, sie wären zweifellos amüsiert gewesen.
 

Gute Mütter, böse Mütter

In dieser ersten Wiener Zeit greift Egger-Lienz ein Thema auf, zu dem er bereits eineinhalb Jahrzehnte zuvor inspiriert wurde. Bei einer Münchner Ausstellung im Jahr 1888 sah er erstmals Fritz von Uhdes (1848–1911) Triptychon „Heilige Nacht“ und war tief beeindruckt von dessen realistischen und zugleich intimen Charakter. Jedoch erst 1903 malte er seine eigene „Heilige Nacht“. Typisch für den Ablauf seines Schaffensprozesses fertigte der Maler zunächst viele Skizzen und Einzelstudien zum finalen Gemälde an, insbesondere im Cadore- und Dolomitengebiet. Uhdes Komposition, die ihm als konzeptionelle Grundlage diente, formte er dabei ganz im Sinne der eigenen Bildvorstellungen um und ersetzte u.a. die Triptychonform durch eine räumliche Einheit. Darin ist es Nacht und Maria und das Jesuskind werden im Stall von einer Laterne in ein warmes magisches Licht getaucht, dessen Schein Josef, eine Magd und die Hirten ebenfalls sachte erhellt – ein Bild, das aus einer tiefen Empfindung heraus entstand, auch deshalb, da dem Künstler sein im Jänner 1903 geborener Sohn Fred (1903–1974) als Modell für das Jesuskind diente.

Mit der „Heiligen Nacht“ schuf Egger-Lienz gleichsam ein – später vielfach wiederholtes – Idealbild der Mutter mit Kind, das im krassen Gegensatz zu einem Werk steht, das sein (Welsch-)Tiroler Landsmann Giovanni Segantini ein Jahrzehnt zuvor malte: „Die bösen Mütter“. In einer kalten Schneelandschaft verheddert sich hier eine schwangere, halbnackte Rothaarige mit Säugling an der Brust in einem Baum. Es ist die künstlerische Abrechnung mit Müttern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Das Bild entstand aufgrund eines Kindheitstraumas des Künstlers: Segantini hatte als Kind weniger Glück als Egger-Lienz, denn er verlor früh seine Mutter (und einen Bruder) und wurde von seiner Schwester verstoßen.
 

Mann und Weib

Haben in Egger-Lienz’ Weltsicht Mann und Frau ihren genau definierten Platz, so wurzelt dies ganz in seiner katholisch geprägten Herkunft und der von ihm für seine Werke verwendete Begriff „Weib“ hat althergebrachten, biblischen Charakter, im Gegensatz zu Otto Dix’ Verwendung desselben Wortes. Wenn Dix von „Weibern“ spricht, dann aus Vorliebe für das Direkte – „Weib“ bezeichnet für ihn die sexuell selbstbestimmte Frau im Allgemeinen, die Dirne im Besonderen. Dabei sind für ihn die „Sünder“ – die Hure und ihr Freier – jedoch „die ersten, die in den Himmel kommen“.

In Egger-Lienz’ „Wallfahrern“, die er zu Beginn seiner mittleren, monumental-dekorativen Schaffensphase malt sind dementsprechend Frauen und Männer streng voneinander getrennt. Durch eine Balkenkonstruktion triptychonartig gegliedert, sehen wir auf der linken Seite die Frauen, auf der rechten die Männer, sodass im Zentrum eine Frau und ein Mann den Gekreuzigten flankieren.

Mann und Frau stellt Egger-Lienz in den darauffolgenden großen Werken immer wieder in den Mittelpunkt, so auch im am Ende der Wiener Periode nach verschiedenen Entwürfen entstandene Monumentalbild „Das Leben“ (auch „Die Lebensalter“): „5 Mannsfiguren u. ein schwangeres Weib. Lebensgroß, alle beim Bau eines Balkenhauses […] Vom Knabe[n] bis zum Greiß (90 Jährig[er] Mann), der in die Grube steigt.“ Diese Bildidee ist nicht neu: Realisiert wurde sie z. B. schon von dem um 1900 auch in Österreich sehr bekannten finnischen Maler Akseli Gallèn-Kallela (1865–1931), der in seinem Gemälde „Nybygge/Hausbau“ (1903) zwei Männer beim Errichten eines Balkenhauses und eine stillende Mutter im Vordergrund zeigt. Niemand hat das Motiv jedoch auf eine derart effektvolle Weise ausgearbeitet, wie es der Tiroler Maler tat.

Dieser monumentale, symbolisch aufgeladene Charakter hat sowohl zeitgenössische Kunstkritiker als auch Literaten zu ausführlichen Interpretationen inspiriert, u.a. den „Jungtiroler“ Dramatiker Franz Kranewitter (1860–1938), der laut seiner überschwänglichen Bildbesprechung „des ewigen Werdens, Blühens, Fruchtbringens und Absterbens verherrlichend Lied und geheimnisvolles Gleichnis“ in dem Werk erkennt, „gezeugt und geboren von dem gleichen Geiste, aus dem einst Michel Angelos ‚Nacht‘ und die anderen Kolossalfiguren des Grabmals Papst Julius II. emporstiegen.“ Das Weib, das in „unendlicher Einfachheit und Schlichtheit, in herber Anmut“ neben dem Mann steht, wisse, was ihr bestimmt ist  „Ein rührendes Ergeben, ein sanftes, mütterliches Erdulden, wie es der englische Gruß so schön mit den Worten der Gottesmutter: ‚Sieh, ich bin eine Magd des Herrn‘ ausdrückt, liegt über ihrem Gesichte, das trotz seiner Unschöne, ja der Hässlichkeit einzelner Partien, mit seiner unendlichen, nimmer bezwingbaren Güte und Ertragungsfähigkeit fast einen Schimmer des Überirdischen trägt und uns tief an das Herz greift. Kräftiges Wollen dort und leidvoll gelassenes Dulden da, Aktivität und Passivität, die beiden Pole des Magneten, ein Zwie- und Einklang, nie habe ich sie größer, einfacher, eindringlicher und beredtsamer dargestellt gefunden wie hier.“ Nüchterner und distanzierter bleibt der Maler und Kritiker Max von Esterle (1870–1947) in seiner im „Brenner“ erschienenen „Kunstschau“: Er verweist vor allem auf die Unterschiede zwischen dem Tiroler Maler und dessen Schweizer Antipoden Ferdinand Hodler, der zwar die reichere, differenziertere Natur sei, mit einer breiteren Begabung, mannigfaltigeren Mitteln und einer komplexeren Symbolik, „aber Egger, der Einfache, mit dem Willen zur Schlichtheit Geborene“, wirke durch seine plastische Auffassung, in seiner grandiosen Einseitigkeit und in seiner simplen Mystik weit monumentaler. In diesem Sinne ist Egger-Lienz zweifelsohne auch monumentaler als Gustav Klimt, der zuweilen vergleichbare symbolistische Themen für seine großen Kompositionen wählt („Die drei Lebensalter“ [1905]; „Tod und Leben“ [1911–1915] etc.), dabei aber ein hochästhetisch-dekoratives und erotisch-psychologisches Raffinement zeigt, das Egger-Lienz noch fremder ist als die doch „bodenständigere“ Auffassung Hodlers.

„Das Leben“ erscheint auch  Esterle als Höhepunkt des bisher Geschaffenen von Egger-Lienz, alles früher Entstandene sei lediglich ein „Vorspiel“ gewesen. Aus heutiger Sicht mutet diese Einschätzung selbstverständlich maßlos überzogen an, das Gemälde ist eher beispielhaft für ein von zeitbedingten Konventionen mitbestimmtes Herantasten an seine späteren, völlig unkonventionellen Arbeiten, in denen auch das rein Malerische wieder zu seinem Recht kommt.
 

Zeugung und Geburt

Egger-Lienz’ „Entwurf zu ‚Zeugung‘“ (1913/1914), den dieser als Teil seines von den Jahreszeiten inspirierten Zyklus „elementarer Lebensgesichte“ gestaltet, eine der seltsamsten Bildideen des Tiroler Malers, steht ebenfalls im starken Gegensatz zu Klimts Kompositionen. Auf einem Bett liegt regungslos und leichenblass eine Frau, dargestellt in starker Verkürzung wie später der tote Christus in „Pietà“. Während dahinter die Figur eines überdimensionalen, nach vorne gebeugten Greises auf das Ende des Lebenskreises verweist, stürmt von der rechten Seite der Mann mit ausgebreiteten Armen „zur Zeugung“ heran. Die ganze Szenerie wirkt so, als wäre sie einem Alptraum entsprungen, Mann und Frau erfüllen lediglich ihre Pflicht fernab jeglichen Eros, sind vom Schicksal Unterjochte, bei dem das Ende stets präsent ist.

Als erste, den Frühling versinnbildlichende Darstellung des Zyklus plante Egger-Lienz ursprünglich das Bild einer Gebärenden zwischen zwei gleichfalls hockenden Frauen, deren eine ein Kind stillt, ein zweifellos kühnes Motiv, das er später in abstrahierter Form in „Der Mensch“ einfügt. Der Künstler führt „Werden“ (auch „Geburt“) jedoch ebenso wenig aus wie die „Zeugung“ und zerstört später sogar den Entwurf. Durch Fotos aus seinem Nachlass dokumentiert, kann man ermessen, wie konsequent Egger-Lienz hier seine Bildgedanken umgesetzt hat. Bei aller kompositioneller Ausgewogenheit dank der klassischen Dreiecksform ist es ein Werk von außerordentlicher Ausdruckskraft und Unmittelbarkeit. Die drastische Realistik etwa der „Geburt“ (1927) von Otto Dix fehlt ihm jedoch. Dort ist die Gebärende als Unterleibstorso mit gespreizten Beinen in Nahaufnahme dargestellt, die Scham lediglich von einem Laken verhüllt, während am Neugeborenen noch die blaue Nabelschnur hängt.

 

Kriegsfrauen

Auch in Egger-Lienz’ Werken zum Ersten Weltkrieg haben die Frauen ihren Platz. Nach seiner den Soldaten an der Front gewidmeten Trilogie „Den Namenlosen 1914“, „Missa Eroica“ und „Finale“ thematisiert er mit „Kriegsfrauen“ (1918–1922) einen weiteren, zumeist verdrängten Aspekt des Krieges. In der desillusionierenden Erkenntnis, dass der Krieg für sie ein Erdulden ohne jegliche Mitsprache war, in der Trauer um ihre auf den Schlachtfeldern umgekommenen Männer und Söhne erstarren die Gesichter der Frauen zu schmerzverzerrten hölzernen Masken. Mit dieser radikalen Aussage verknüpft der Maler auch eine radikale Gestaltung. Härtung der Form und rigorose Unterordnung aller Bildteile unter eine streng geometrische Komposition – zwei der wesentlichen Prinzipien der „Raumkompositionen“ in Egger-Lienz’ letzter Schaffensperiode – verbindet er hier wie in keinem zweiten seiner Werke mit einer ganz dem Ausdruck dienenden Deformation und kubisierenden Aufsplitterung der Formen und zeigt dabei, wie bei den Kriegsbildern zuvor und den Gedankenbildern danach, avantgardistische Züge internationalen Niveaus.

Interessant ist der Vergleich der „Kriegsfrauen“ etwa mit dem „Frauenbad“ von Max Beckmann, das ebenfalls unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entsteht. Es zeigt den deutschen Maler gleichfalls auf dem Höhepunkt seiner expressiven Phase, mit dichtgedrängten Figuren auf einer engen kubistisch aufgefächerten Raumbühne. Zu sehen ist ein bizarres Durcheinander von Frauen verschiedenen Alters in Badekostümen, dazwischen herumkrabbelnde und spielende Kinder und auch eine Mutter mit einem Knaben, der sich, in der festen Umarmung quäkend und eine hässliche Grimasse schneidend, windet. Auf dem Kopf trägt er einen Papierhelm, der aus der Zeitung „Vorwärts“ gefaltet wurde. Die stürmische Parole steht gleichsam dafür, dass der Knabe sich trotz des Desasters auf den Straßen, nach dem Schrecken des Krieges immer noch von Gewalt, Waffen und starken Männern angezogen fühlt. Ein ähnlicher unmittelbar sozialkritischer Akzent fehlt in den „Kriegsfrauen“. Aber auch diese Darstellung ließ sich, im Gegensatz zu früheren Mutterbildern von Egger-Lienz und wenngleich 1941 durch den „Reichsgau Kärnten“ erworben, nur schwer von den nationalsozialistischen Machthabern mit ihrem der „arischen Rasse“ und dem Soldatennachwuchs dienenden Mutterkult instrumentalisieren.
 

Mütter, Pietà

Die „Kriegsfrauen“ bilden einen End- und Wendepunkt in der künstlerischen Entwicklung des Malers, das Thema der Frau bzw. Mutter greift Egger-Lienz jedoch auch in seinen späten Gedankenbildern, in denen die weit vorangetriebene expressive Deformation einer zuvor unerreichten kontemplativen Innenschau weicht, immer wieder auf: von den „Generationen“, zu denen selbstverständlich eine Mutter mit Kind gehört, über „Mütter“ (1922/1923) bis hin zum großartigen Schlusspunkt „Pietà“. Gleichsam die Bilanz seiner bisherigen Lebensarbeit ziehend, verschmelzen nun Expression und Wirklichkeitsnähe, Statik und Bewegung, räumlich-plastische Formgebung und malerischer Luminarismus zu einer neuen Einheit. Egger-Lienz’ künstlerische Überzeugung von der Unterordnung der gestalterischen Mittel unter einen „großen Stoff“ – für sein Außenseitertum innerhalb der zeitgenössischen Kunst nicht weniger verantwortlich als seine Bauernthematik – erfährt in seinen letzten „Bildern zuständlicher Versunkenheit“ ihre Vollendung.

Thematisch und kompositorisch an die „Kriegsfrauen“ anschließend, zeigen die „Mütter“ wiederum drei Frauen, die in Abwesenheit ihrer an der Front ums Leben gekommener Männer ganz auf sich gestellt sind: eine nimmt den Platz im Bildvordergrund ein, eine blickt durch ein Fenster in den Raum und eine etwas jüngere, leicht zurückversetzte hält mit beiden Händen ein Wickelkind auf ihrem Schoß. Im Unterschied zu den „Kriegsfrauen“ verwendet der Maler aber ein zusätzliches Bildelement, einen – scheinbar auf der Tischplatte ruhenden – diagonal in den Raum gestellten überdimensionalen Gekreuzigten. Er ist es, der in der Not Halt gibt: „[W]ar schon bei den ‚Kriegsfrauen‘ deren Auge, deren Blick weltabgewandt, verloren“, vermerkt der frühe Egger-Lienz-Biograf Josef Soyka, „so ist der Ausdruck der ‚Mütter‘ bis ins Visionäre gesteigert: diese Mütter beirrt keine irdische Sorge mehr, die haben sie ja schon längst als nutzlos erkannt.“

Egger-Lienz selbst verweist bezüglich dieser Entrückung auf eine allgemeine bäuerliche Wesensbeschaffenheit: „Religiosität im strengsten Sinne wendet das Empfinden für weltläufige und in diesem Sinne bestehende Ordnungen zu einer gewissen außerweltlichen Insichgekehrtheit. Daher oft das scheue Wesen der Bergbewohner dem Weltmanne gegenüber, was so durchwegs wie Mißtrauen, Verschloßenheit oder gar Beschränktheit genommen wird!“

Die „Pietà“ ist das letzte Thema, mit dem sich Egger-Lienz beschäftigt und die konsequenteste Umsetzung seines künstlerischen Wollens, eine letzte Verdichtung von Form und Inhalt. Alles ist auf das Wesentliche reduziert und durch den Verzicht auf eine forcierte Stilisierung von größter Ausdruckskraft. Ikonografisch entspricht das Bild mehr der Tradition der „Beweinung“, denn es sind drei Frauen, die am auf einem Tisch aufgebahrten Leichnam Christi Totenwache halten. Ihre Trauer ist jedoch ganz verhalten und vielmehr der Gewissheit gewichen, dass der Tod des Mannes aus Nazareth ihrem Leben den entscheidenden Sinn gibt. Ob eine der Frauen des letzteren Mutter ist, bleibt offen, die drei sind an sich vielmehr Stellvertreterinnen für alle Mütter und Frauen.

„Den Substanzreichtum der ‚Pietà‘“, bekundet Rudolf Leopold in einem Interview, „könnte man am ehesten mit Bildern des frühen [Pablo] Picasso [1881–1973] vergleichen. Auch wenn dieser Künstler […] in seiner ‚Rosa Periode‘ zeitlich früher daran war, erreichte Egger-Lienz in diesem Bild noch einen größeren Substanzreichtum.“ Die „Pietà“ hing direkt über dem Bett des großen Sammlers. 14 Jahre nachdem er es nach Gründung der Stiftung Leopold dort abnahm, „hängen die Schnüre und Haken der damaligen Befestigung noch immer leer herunter. Ich habe noch kein Bild gefunden, das dieses ersetzen könnte.“

Als der Maler Leopold Hauer (1896–1984) Egger-Lienz kurz vor seinem Tod am Grünwaldhof in St. Justina besucht und diesen fragt, woran er jetzt arbeite, bekommt er zur Antwort: „Ich bin fertig.“ Nicht nur Resignation und Erschöpfung des von Krankheit gezeichneten Mannes sprechen aus diesen Worten, sondern auch das Bewusstsein, gesagt zu haben, was er zu sagen hatte. Im Besonderen auch zum Bild der Mutter.

 Briefstellen von Egger-Lienz zitiert nach: Kirschl, Wilfried: Albin Egger-Lienz. Das Gesamtwerk, Wien-München 1996; Egger-Lienz, Ila: Mein Vater Albin Egger-Lienz, Thaur o. J. [1981]

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